Grundlagen der Pädagogik

Was kleine Kinder brauchen - vom Ansatz der Waldorfpädagogik

Wach, aufmerksam und neugierig hat das kleine Kind von Geburt an alle Sinnesantennen auf die Welt hin orientiert und nimmt begierig auf, was sich ihm darbietet. Dabei gilt den Erwachsenen, den Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, später auch den Lehrerinnen und Lehrern, sein ganz besonderes Interesse. Aus dieser mitgebrachten, angeborenen Fähigkeit, alles aufnehmen und nachahmen zu wollen, ergibt sich für die Erwachsenen eine erzieherische Grundaufgabe: die direkte Umgebung des Kindes so zu gestalten, dass sie auch nachahmenswert wird.




Doch was ist nachahmenswert? Fast alle Lebensbereiche müssen daraufhin abgeklopft werden: Wie sprechen die Erwachsenen mit dem Kind? Welche Geschichten erzählen sie ihm, wie singen und spielen sie mit ihm? Welchen Tagesablauf und Tagesrhythmus lernt das Kind kennen? Welche Rolle spielt das Fernsehen? Wie leben die Erwachsenen zusammen, welches Frauen- und Männerbild lebt in ihrer Beziehung? Wie gehen die Erwachsenen mit den wesentlichen Lebensfragen um?

Denn die Nachahmefähigkeit des Kindes richtet sich nicht nur auf Dinge und Ereignisse der äußeren Welt. Kinder nehmen die Atmosphäre, die innere Haltung und Gesinnung der Erwachsenen ebenso wahr und ahmen auch sie nach. So ist die Frage von Vorbild und Nachahmung immer und ganz zentral eine Frage an das Bild vom Menschsein, das in uns Erwachsenen lebt.

Die ersten drei Lebensjahre

Ein Mensch lernt in seinen ersten drei Lebensjahren mehr von seiner Amme als ein Weltreisender auf all seinen späteren Reisen, so urteilte Jean Paul (1763-1825), ein Zeitgenosse von Pestalozzi. Der österreichische Arzt und Heilpädagoge Karl König (1902-1961) hat in dieser Entdeckung folgendes hinzugefügt: „In den ersten drei Jahren seiner kindlichen Existenz erwirbt der Mensch diejenigen Fähigkeiten, die ihm hier auf der Erde die Möglichkeiten seines Menschseins vermitteln. Er lernt im Ablauf des ersten Lebensjahres zu gehen, erwirbt im zweiten Lebensjahr das Sprechen und erlebt im dritten Lebensjahr das Erwachen des Denkens. Gehen, Sprechen und Denken haben ihn zum Menschen gemacht, haben ihn aus einem Geschöpf zu einem sich selbst erkennenden Wesen gemacht.“ (König, 1957)



Schon in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts erkannte der Schweizer Psychologe Jean Piaget in der Bewegung des Kindes die Grundlage für dessen emotionale, soziale und kognitive Entwicklung. „Wer seinen Gleichgewichtssinn nicht entwickelt, verliert auch die seelische Balance. Bewegungsstörungen gehen einher mit einer Verzögerung der Sprachentwicklung. Fazit: Eine Gesellschaft, die Sinnesentfaltung ihrer jungen Generation nicht fördert, beschneidet zugleich ihre intellektuellen Fähigkeiten.“ (Zit. nach Struck, 1997) Viele Kinder bewegen sich heute zu wenig oder falsch. Sie durchsitzen ihre Kindheit und sind damit in ihrer gesamten Lernentwicklung benachteiligt.

Um das dritte Lebensjahr sagen die Kinder dann - oft von einem Tag auf den anderen - „Ich“. Das Kind löst sich damit aus dem Einssein mit der Welt: Ein „Ich“ braucht ein „Du“. Die bisherige Einheit wird zur Zweiheit, ein Inneres und ein Äußeres entsteht, ein Jetzt, ein Früher, ein Später. Sinnvolle Handlungsabfolgen des Erwachsenen, eine gute Sprechweise und die Möglichkeit für eigenes Tätigsein im Spiel fördern die Denkaktivität des Kindes. Spielzeug, das ein Kind in seiner Funktionalität noch nicht durchschauen kann, Computer, kompliziertes technisches Spielzeug oder Fernsehen halten sie auf.

Kindheit ist Spielzeit

Das Spiel des ganz kleinen Kindes, noch vor dem Kindergartenalter, ist bestimmt durch das Verlangen, alles in spielende Tätigkeit umzusetzen, was es über seine Sinne aufnimmt. Wahrnehmen und Tun gehören noch ganz eng zusammen. Das Spiel des kleinen Kindes ist weitgehend zweckfrei, es ist reine Tätigkeit - und dabei lernt das Kind die Dinge der Welt vorurteilsfrei kennen: Stoffe, Formen und Farben, die Elemente der Natur und physikalische Gesetze wie Statik oder Schwerkraft. Die Spielmaterialien, mit denen kleine Kinder umgehen, sollten „echt“ und in ihrer Formgebung noch nicht fertig ausgestaltet sein, damit die Sinne, die Phantasie, die Vorstellungen nicht getäuscht, sondern angeregt werden.

Im Kindergarten, etwa zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, tritt zu dieser ersten Spielphase mehr und mehr die erwachende Phantasie des Kindes hinzu. Das Wahrgenommene wird jetzt innerlich bewegt, umgeformt und spielend neu gestaltet. Das Kind wird zum Schöpfer einer neuen, seiner eigenen Welt. Der Psychologe William Stern nennt die kindliche Phantasie die Schöpferkraft des Menschen und bemerkt, dass der Mensch in dieser frühen Lebensphase diese Kraft so einsetzen kann, wie nie mehr in seinem späteren Leben.

Diese Phantasiekraft gilt es zu pflegen, damit sie nicht in Monotonie und Sinnlosigkeit verkommt. Dazu gehören zum Beispiel sinnhafte Geschichten, Phantasie anregendes, das heißt freilassendes Spielzeug - und überhaupt: dem Kind Raum und Zeit zum Spielen zu geben. Dass die Phantasiekraft der Kinder durch bereits vorgeformte Erlebnisse mit fertigen Bildern in ihrer Entfaltung gestört wird, ist hinlänglich bekannt. Auch dass die Phantasiefreude gelähmt wird durch eine immer überwältigendere und früher einsetzende Bilderflut. Aber nicht nur die kindliche Phantasiekraft wird dadurch bedroht, auch die freie geistige Gestaltungsfähigkeit der späteren Erwachsenen leidet darunter.

Die dritte Spielstufe, bei den etwa Fünf- bis Siebenjährigen, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder sich jetzt eher von Erlebnissen und Vorstellungen anregen lassen und sich mehr an der Realität orientieren. Das Handeln wird zielgerichteter, Planung und vorbereitende Verabredungen werden bedeutsam, die Kinder übernehmen Aufgaben und Rollen und wollen sie wirklichkeitsgerecht ausfüllen. Kleine Aufträge und Pflichten, die sie verantwortungsvoll übernehmen, unterstützen diesen Prozess.

Erziehung zum Leben in Kultur und Natur

Kinder brauchen Märchen. Mit sinnhaften Geschichten lernen sie die Welt kennen, erfahren, dass sie weisheitsvoll gestaltet ist, lernen Moralität und Urwahrheiten der Menschheitsentwicklung kennen. Die Klarheit und Eindeutigkeit der Geschichten helfen dem Kind, sich zu orientieren. Und je öfter es eine Geschichte hört, um so lieber. Denn dann kennt es sich in ihr aus: Die Wiederholung stärkt die innere Sicherheit. Auch das Erleben des Jahreslaufes mit seinen wiederkehrenden Ereignissen und Festen gibt den Kindern Sicherheit und verbindet sie mit der Welt. Deshalb gehören Jahresfeste zum Leben im Waldorfkindergarten. Eine lebendige, alltägliche Religiosität kommt zum Ausdruck, indem ein Spruch oder Lied erklingt, bevor es Frühstück gibt oder man sich für eine wohlschmeckende Mahlzeit auch gemeinsam bedanken kann. Kindheit entsteht nicht von alleine, sie ist ein ständiger Kulturauftrag an jeden Einzelnen und an uns alle. Kindheit ist immer in Gefahr - kaum dass sie als eigenständiger und lebensentscheidender Entwicklungsabschnitt ins Bewusstsein der Menschen getreten ist -, zu verschwinden oder in den Hintergrund gedrängt zu werden

Peter Lang
Diplom Pädagoge/Dozent

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